Leseprobe
Als Moruk ins Freie trat, merkte er, wie kalt es geworden war. Der erste Herbstmond stand noch fast rund am dunklen Abendhimmel. Ein heller Kranz umgab ihn. Im Dorf war es ruhiger geworden. Irgendwo kläffte ein Hund und Moruk hörte ein Rind brüllen, sonst war alles still. Das gelbe Herbstlaub der Birken raschelte leise im Abendwind.
Langsam ging Moruk zum Flussufer hinunter. Dort lag Telses Einbaum neben mehreren anderen Booten am Strand. Der Wasserstand war jetzt viel niedriger als am Morgen. Dort, wo die Wellen des Hochwassers ans Ufer geschlagen waren, hatten sie einen Rand aus Schwemmholz zurückgelassen. Zu nass, um ein Feuer damit zu entfachen. Moruk hätte gerne ein kleines Feuer gemacht. Wenn man in die Flammen schaut, kann man manchmal die Geister sehen und ihre Wünsche verstehen, dachte er. Moruk wollte die Geister bitten, Telse am Leben zu lassen. Lange stand er am Ufer und schaute auf das Wasser, das im Mondlicht glänzte. Er atmete die Luft des fremden Dorfes, die ihm so vertraut vorkam: Der Rauch der vielen Herdfeuer, der Geruch der Tiere, das leicht modrige Aroma des Wassers.
In diesem Moment überkam ihn ein gewaltiges Heimweh. Die Sehnsucht zerriss ihm fast das Herz. Wäre doch nur die Mutter da und würde ihn trösten! Der Großvater könnte ihm raten, was er tun sollte. Ebba, die Vaterschwester, würde ihm helfen, mit den Geistern zu sprechen. Sie wüsste, wo er die Geister suchen musste, die er um Telses Leben bitten wollte. Moruk schloss die Augen. Er hatte die Arme fest um sich selbst geschlungen und versuchte, sich zu konzentrieren. Zuerst musste er herausfinden, wie er Telses Schutzgeister erreichen konnte. Wahrscheinlich wohnten sie im Fluss, denn Telse war ja ein Fischermädchen und mit dem großen Strom verbunden. Er öffnete die Augen und schaute auf den Fluss hinaus, da kam ihm die Erkenntnis wie ein Blitzschlag: Das seltsame Tier, das er in der Morgendämmerung gesehen hatte! In diesem Wesen musste sich ihm der Schutzgeist gezeigt haben! Natürlich, in dem Moment war Telse schon krank gewesen und der Geist hatte sich ihm gezeigt! Wenn er das Wesen doch nur wieder sehen könnte! Lange suchten seine Augen den dunklen Fluss nach dem runden Kopf ab, doch der war nirgends zu entdecken. Durfte er die Geister rufen? Die Lieder der weisen Männer und die Worte von Ebba, wenn sie zuhause am Herdfeuer die Schutzgeister anrief, hatte er oft gehört. Er beschloss, dass er es versuchen wollte.
Leise begann Moruk zu summen. Es hörte sich nicht besonders schön an. Schon seit einer Weile war Moruks Stimme recht kratzig und jetzt konnte er nur einen brummigen Ton herausbringen. Er räusperte sich, setzte noch einmal an und raunte leise die uralten Worte. Er rief sich das Bild des seltsamen Wasserwesens in Erinnerung und während er wieder und wieder die bittenden Worte hervorbrachte, sah er hinter seinen geschlossenen Augen Telse und das Wasserwesen, die wie im Tanz umeinander wirbelten. Schneller und schneller drehten sie sich und auch Moruk selbst drehte sich mit weit ausgebreiteten Armen um sich selbst. Er taumelte, ihm wurde schwindelig und ehe ihm die Beine wegknickten und er auf den Boden fiel, sah er für einen kurzen Moment in die großen runden Augen des Wasserwesens. Wie dunkle Teiche sahen sie aus, in denen sich die goldene Mondscheibe spiegelte. Groß, rund und unergründlich tief. „Bitte!“, flüsterte er noch einmal, dann verschwand das Bild und Moruk öffnete unter flatternden Lidern die Augen. Er fand sich bäuchlings auf dem Boden liegend wieder, den Mund voller Gras und Erde. Unsagbar schwach fühlte er sich, schwach, elend und müde. Er spuckte den Sand aus und fiel im nächsten Moment in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Moruk erwachte bibbernd vor Kälte. Die Sterne waren verschwunden und kalte feuchte Luft hüllte ihn ein. Es war stockfinster und absolut still. War er überhaupt noch im Dorf? Hatte sein Gebet ihn gar mitgenommen an einen anderen Ort? In der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, wo er sich befand. Moruk lauschte in die Finsternis hinein. Da! Ein leises Glucksen, nicht weit entfernt. Der Fluss war noch da. Moruk rappelte sich auf und rieb sich die Augen. Vorsichtig ging er in die Dunkelheit hinein, dorthin, wo er den Speicher vermutete, in dem Telse lag. Seine Fußsohlen spürten das Gras und er tastete sich Schritt für Schritt vorwärts, bis er den ausgetretenen Pfad unter seinen Füßen fühlte. Etwas sicherer ging er weiter. Manchmal hielt er inne und versuchte herauszufinden, wo er sich gerade befand. Er zählte seine Schritte. Jetzt muss ich schon mitten im Dorf sein, dachte er, und blieb stehen. Hier roch es streng nach Rauch, Mist und Urin. Von der linken Seite konnte er keinen Luftzug mehr spüren, dort musste ein Haus sein. Er streckte die Hände in diese Richtung aus und schon einen Augenblick später spürte er pieksende Reethalme unter den Fingerspitzen.
Erleichtert atmete Moruk aus. Jetzt musste er sich nur noch am Dach entlang tasten bis zum Eingang. Noch immer war die Dunkelheit um ihn herum undurchdringlich und er stolperte über einen Stein, der unter der Dachtraufe lag. Moruk hielt sich das schmerzende Knie und fühlte das warme Blut, das ihm am Bein herunter lief. „Mist!“, fluchte er leise und hörte als Antwort ein finsteres Grollen. Anscheinend hatte irgendein Hund ihn bemerkt. Hoffentlich würde er jetzt nicht gleich das ganze Dorf zusammenkläffen! Moruk hielt die Luft an und stand mucksmäuschenstill. Als er sicher war, dass der Hund sich wieder beruhigt hatte, schlich er weiter. Bald hatte er die Giebelseite des Hauses erreicht und tastete sich vor bis zur Tür. Sie war offen und der Junge lauschte in den finsteren Raum hinein. Er hörte das Pochen seines Herzens und das Rauschen von Blut in seinen Ohren, aber dann hörte er auf einmal auch ganz leise flache rasselnde Atemzüge. Ob das Telse war? Vorsichtig, um nichts umzustoßen, das auf dem Boden stehen mochte, bewegte er sich in die Richtung, aus der die Atemgeräusche kamen.
Seine nackten Füße spürten Stroh auf dem Boden. Als er sich hinunterbeugte, fühlte er Telses schmalen Körper auf dem Strohlager. Der Wollstoff, mit dem sie zugedeckt war, hob und senkte sich sacht.
Moruk fühlte eine große Dankbarkeit in sich aufsteigen: Seine Freundin lebte noch und sie schien tief zu schlafen. Er war sich plötzlich sicher, dass alles wieder gut werden würde. Mit einem Seufzer der Erleichterung legte er sich neben sie, schmiegte sich an ihren fiebrig heißen Rücken und schlief beruhigt ein.